Eröffnungsreden

Dr. Martin Henatsch zur Eröffnung der Ausstellung „… und ob, you know“ (mit Hanswerner Kirschmann), April 2016, Kunstverein Haus 8, Kiel

Lieber Reinhold Engberding, lieber Hanswerner Kirschmann,

„… und ob, you know“. Bedeutet so viel wie: „sicher, weißt Du doch“; „Klar, Du weißt Bescheid“; ein Ausstellungstitel, der so tut, als ob alles klar wäre. Und dies in der coolen Kombination von deutsch und englisch. – Sie wissen ja, je englischer der Ausstellungstitel, desto cooler die Künstler bzw. Kuratoren… – Und hier? Ist dies auch eine coole Ausstellung? Vielleicht nicht ganz so cool, da ja die Hälfte des Titels in deutsch? Was bedeutet die kryptische Aneinanderreihung dieser beiden zweisprachigen Floskeln? Die Künstler haben mir berichtet, dass sie lange an einem Ausstellungstitel gefeilt haben und sich immer wieder verschiedene mehr oder weniger bedeutungsschwangere Versionen zugesandt und doch verworfen haben. Irgendwann war – vielleicht eher eine Verzweiflungstat? – dieser zunächst eher bedeutungsfreie Titel dabei und beide wussten: der ist es. Zitat Reinhold Engberding: „Warum, konnte ich nicht sagen, aber ich wusste, der ist gut und richtig.“

Ist es vielleicht mit der Kunst hier und dem Arrangement der Zusammenstellung der Werke von Reinhold Engberding und Hanswerner Kirschmann ganz ähnlich? Zunächst, eines ist in der Tat ganz einfach: die Zuordnung. Auch dabei halfen mir die beiden Künstler letzte Woche, als ich die Gelegenheit zu einer Vorbesichtigung hatte, es ist nämlich ganz einfach…: Reinhold Engberding ist schwarz und Häkelware, Hanswerner Kirschmann hell und Holzplatten. Werfen wir einen ersten Blick auf die Holzplatten: Grobe, weitgehend unbearbeitete Spanplatten stehen zu Kisten zusammengeschraubt im Raum bzw. hängen wie grobschlächtig schnoddrige Heizungsverkleidungen an der Wand, die noch darauf warten, dass sie geschliffen, gespachtelt und lackiert werden. Provokation des auf feine Oberflächen, akkurate Handwerklichkeit und hintergründige Erzählung geschulten Betrachters? Die Auflösung des Formbegriffs, eine fluxusartige Neuauflage des Konzepts „When attitudes become Form“, wie es der große Ausstellungsmacher Harald Szeemann 1969 in Bern mit Künstlern wie Joseph Beuys, Eva Hesse, Nam June Paik, Mario Merz so unnachahmlich inszenierte?

Aber halt, keine vorschnellen Schlüsse! Provokationen durch ‚arme‘ Materialien, Konzeptkunst und Minimalismus sind heute wirklich nicht mehr nötig, diese künstlerische Grundlagenforschung wurde in den 70er Jahren weitgehend abgeschlossen. Dies ist nicht das primäre Ansinnen des eine Generation jüngeren Hanswerner Kirschmann.

Ein Beispiel dafür: Wenn man von der linken Seite auf das dominante Wandobjekt (O.T., 2016) blickt, dann fällt da im unteren Bereich eine merkwürde Applikation auf, ganz ähnlich wie auf der oberen – nennen wir es mal – Schauseite des großen Kubus hier in der Mitte des Raumes. Und an diesen – fast könnte man sagen Einlassungen oder Intarsien – dann eine ganz andere Sprache als am Corpus selbst: Feinste Laubsägearbeit, sorgfältigst gekurvte und geschliffene Konturlinien, fast wie eine High-Tech-Computerplatine. Zwei nach hinten hin geschlossene schmale Öffnungen aus hauchdünnen Schichtungen. Sie eröffnen einen Tiefenraum, der über die Stärke der Pressholzplatten hinausgeht. Elegant und zugleich unheimlich wie die Lanzettfenster eines venezianischen Palastes.

Ähnliches auch am Wandobjekt: an einer Stelle plötzlich feinste Schnittführung, geschichtete Laubsäge-Brettchen, präzise Einblicke in ein unterirdisches Raumsystem, das wie ein labyrinthischer Bunker bei James Bond aussieht. Und noch etwas könnte man voreiligen Lästereien über angeblich lieblose Kistenbauerei – jede Kunsttransportkiste ist besser verarbeitet! – entgegenhalten: Die Objekte scheinen geradezu fugenlos mit Wand und Boden verschmolzen, als ob sie aus diesen herauswachsen würden – dies trotz sichtbarer Unebenheiten des Kachelbodens bzw. der Backsteinwand, an der sie angebracht sind.

Also doch keine Kisten, die einfach mal so abgestellt oder über die Heizungsrohre gehängt wurden! Eher diffizile Raumerweiterungen, die vor allem dafür da zu sein scheinen, dass sie eine Bühne für die kleinen zeichenhaften Applikationen bilden. Ein – wenn auch unorthodoxer – Sockel vielleicht? Hanswerner Kirschmann benutzt selbst immer wieder dieses Wort, wenn er von seinen Raumarbeiten spricht. Ein Sockel, der Teil des Kunstwerks ist und den Raum rhythmisiert. Dies ist besonders gut im zweiten Raum nachvollziehbar, wo seine Wand (O.T., 2004/06) den Raum an der exakt richtigen Stelle untergliedert, so dass der gesamte Raum eine ganz neue Spannung erhält. Überhaupt sind alle Objekte sehr genau auf den Raum abgestimmt. Bei aller Lässigkeit, scheinbarer Nonchalance einerseits, andererseits größte Präzision und feinst abgestimmte Setzungen. Gerade diese Kombination macht die skulpturale Arbeit von Kirschmann aus.

Man spürt die Intensität, mit der er dabei auch dem Zeichenhaften auf der Spur ist. Fast wie geheimnisvolle Hieroglyphen wirken die zwei Extensionen auf dem Objekt. Dreidimensionale Zeichnungen, die in eine andere Welt zu führen scheinen, die man so gerne entschlüsseln wollte, was aber wohl nie gelingen wird. In zweidimensionaler Ausführung stoßen wir gegenüber der Eingangstür auf sie. Wieder in einer hieroglyphischen Zeichenhaftigkeit, die jedem Erklärung Suchenden schier in die Verzweiflung treiben muss! Diese Unergründlichkeit, das Mysteriöse, Unentschlüsselbare, Unerklärliche, vielleicht sogar Absurde ist wesenhaft für die Arbeit von Hanswerner Kirschmann. Seine Objekte entwickeln ihre Schönheit nach eigenen Gesetzen, jede Erklärung wird immer zu kurzfassen. Könne man Hanswerner Kirschmann insofern als einen Romantiker bezeichnen, dessen zwei wie dreidimensionale Zeichen und Zeichnungen eine tiefere Sinnschicht verheißen, aber niemals preisgeben? Ganz so, wie es jene Räume verheißen, die sich hinter seinen dünnen Sperrholzplatten erschließen, ohne jemals ganz einsehbar zu sein?

Vielleicht liegt hierin auch jene Wesensverwandtschaft zu Reinhold Engberding, die dazu geführt hat, dass dieser sich Hanswerner Kirschmann als Partner für diese Ausstellung gewünscht hat. Auch bei ihm krude Materialien, scheinbare Lapidarität einerseits und höchste, hintergründige Akkuratesse andererseits.

Schauen wir also auf die schwarzen Objekte. Hier im Raum gibt es vier von ihnen. Beginnen wir vielleicht mit den beiden Hängeobjekten (O.T. (7, 5, 12, 14 – Mandorla VI), 2011 und O.T. (Calvino lesen! II), 2013): Zunächst Formen, die wirklich an nichts anderes erinnern. Wissen Sie wie schwer es ist, etwas zu schaffen, was an nichts anderes erinnert? Hier also, wie die Zeichnungen und Applikationen von Kirschmann, reine Kunstwesen: spitzauslaufend mit konvexen Ausbuchtungen, von eigentümlicher Materialität, schwer wirkend und doch federleicht. Gegossene Kunststoffobjekte, am Computer generierte Phantasieformen? Ganz und gar nicht, ganz im Gegenteil: Ausgangspunkt ist ein – selbst! – gehäkelter Schlauch. Ja, Reinhold Engberding häkelt in feinster Heimarbeit mit schwarzer Baumwolle, vielleicht so wie Hanswerner Kirschmann mit der Laubsäge präzise gezogene Kurven aus Sperrholz ausschneidet – und dies mit großer Inbrunst. Und was zunächst ein schlapper Häkel-Schlauch war, gewinnt sein heutiges Raumvolumen, indem es vom Künstler gefüllt wird: in diesem Fall mit aufgeblasenen Luftballons oder (weil von besserer Haltbarkeit) aufgeblasenen Kondomen. Diese werden in die hängenden Schläuche gestopft, die von außen teilweise noch gespannt werden – dabei entstehen dann die merkwürdigen kaktusartigen Spitzen wie bei dem Objekt (O.T. (3_33_2 – Jan Holger Maussens Tanzkleid), 2015) – und nun wird das Ganze mit Schellack und schwarzem Wachs überzogen. Dies ergibt jenen feinen samtigen Glanz, der dem Baumwollgewebe seine organische Anmutung belässt und zugleich dem Schlauch Formstabilität verleiht. Nun können die Ballons herausgenommen und das federleichte Objekt in seiner jetzigen Form gehängt werden.

Und wieder herrscht Rätselhaftigkeit. Warum gehäkelt, warum schwarz, warum diese Form? Formen zu schaffen, die keine konkreten Erzählungen auslösen, die willkürlich wirken, doch bis ins letzte ausformuliert sind, die nichts bedeuten und doch präzise ausgefeilt sind? In einem früheren Gespräch hat Reinhold Engberding einmal auf seine Verbundenheit mit dem großen romantischen Bildkünstler und Erzähler Francisco de Goya verwiesen. Insbesondere dessen Caprichos aus dem Jahr 1799 wären ein wichtiger Referenzpunkt seiner Arbeit: „Die Phantasie, verlassen von der Vernunft, erzeugt unmögliche Ungeheuer, vereint mit ihr ist sie die Mutter der Künste und Ursprung der Wunder.“ (Goyas Kommentar zum Blatt 43 aus der Serie „Caprichos“, vgl. http://www.humboldtgesellschaft.de/inhalt.php?name=goya)

Vielleicht trifft dieses Zusammenspiel von Monster gebärender Phantasie und Vernunft den Kern nicht nur von Engberdings, sondern auch Kirschmanns Arbeit: Diese Hingabe in immer neue Bildfindungen, jenseits aller Abbildhaftigkeit; Die Suche nach neuen fantastischen Gestalten, die einen Innenblick – vielleicht sogar auf das eigene Ich? – provozieren und doch von lapidaren Alltagsmaterialien ausgehen.

Augenfällig wird dies auch im zweiten Raum, für den Reinhold Engberding baumarktübliche PVC-Rohre umhäkelt hat („O.T. – 24 x DN 40“, 2005). 24 Knäuel, jeweils 24 Maschen pro Rohr, 24 Meter mögliche Höhe, würde man alle Rohre zusammenstecken. Was für eine Materialkombination: PVC-Abflussrohre und baumwollene Häkelmaschen! Und was für eine wunderbare Inszenierung, wie diese von der Decke kommend, scheinbar zufällig auf dem Boden sich verteilend ein enges Zusammenspiel mit dem monolithischen Block von Kirschmann eingehen!

Obwohl die Materialien an sich so beredt sind – allein der Verweis auf die Herkunft der Abwasserrohre aus dem Baumarkt weckt schon ebenso viele Assoziationen wie die Vorstellung den Künstler häkelnd im Sessel sitzen zu sehen –, eine schlüssige Erzählung wird daraus nicht. Auf die Frage, ob es eine Geschichte dahinter gäbe, ob es eine Inhaltlichkeit gäbe, die ihn zu Form und Ausführung getrieben habe, antwortet der Künstler entsprechend mit einem klaren „nein“. Es ist die Form selbst, die Materialität, die Absurdität der Zusammenstellung, das Unerwartete und letztlich Unerklärliche, das ihn fasziniert: letztlich die Magie der Dinge, die er durch die außergewöhnliche Zusammenstellung von Material und Form erzielt – ganz wie sein Kollege Kirschmann.

Nachvollziehbar wird dies auch bei dem Bodenobjekt, das hier am Ende des Raumes liegt „Anfang und Ende (die Geschichte von Hänsel und Gretel)“: Auch hier zu Schläuchen gehäkelte Baumwolle. Diesmal ummantelt die Wolle aber keine Industrierohre, sondern der Künstler hat sie mit Marmor-Kieselsteinen gefüllt. Ein augenzwinkernder Verweis auf die im Titel angedeutete Geschichte von Hänsel und Gretel, die mit auf dem Weg hinterlassenen Kieselsteinen wieder aus dem Wald herausfinden konnten. Auf die Frage nach der weiteren Verbindung dieses Märchens zu seiner Arbeit allerdings antwortet Reinhold Engberding: „Meine Titel sind eher Irrwege, die mehr verwirren als erklären.“

Es geht also immer wieder um diese weitest mögliche Verunklärung, eine maximale Auflösung traditioneller Zusammenhänge und damit um die Suche nach dem Unerklärlichen, dem sich der Vernunft Entreißenden – bis an die Grenze zu Willkürlichkeit oder Formlosigkeit, ohne sich darin zu verlieren. Und wenn dies Sie, die Betrachter, bis an die Grenze der Ratlosigkeit führt, dann ist das genau der Zustand, den uns der Künstler produktiv machen will und in dem sich der Ausruf des Romantikers und Zeitgenossen Goyas Ludwig Tieck erfüllen kann: „O meine Phantasie sieht Gestalten!“ Doch gerade angesichts dieser grenzgängerischen Indifferenz, oder vielleicht gerade deshalb, bedarf es auch eines Regelwerks, an dem sich der Künstler orientieren kann. Bei Reinhold Engberding ist es eine besondere Arithmetik, die ihm die Häkelnadel führt: So z. B. nachzuvollziehen an dem eben schon erwähnten Bodenobjekt („Anfang und Ende – die Geschichte von Hänsel und Gretel“, 2002).

Zunächst gilt für die Herstellung dieses Objekts eine ganz einfache Regel: Pro Wollknäuel ein Schlauch. Danach eine Markierung, ein Loch, ein Tischtennisball, irgendetwas, was das Ende des einen und den Beginn des neuen Knäuels anzeigt. Wenn aber ein Knäuel immer auf eine Einheit verteilt wird, sind Weite und Länge der Schläuche voneinander abhängig: Je weiter, desto kürzer bzw. umgekehrt. Und die Weite, abhängig von der Anzahl der Maschen pro Häkelreihe, unterliegt einer strengen, fast an mittelalterliche Zahlenmystik erinnernden Arithmetik. Von Schlauch zu Schlauch steigert sich die Maschenzahl der Weite jeweils in 12er-Schritten von 36 auf 48, auf 60 und schließlich 72. Auf meine Nachfrage sagt der Künstler dazu: „… und überhaupt taucht die Zahl 12 sehr oft besonders bei den Häkelarbeiten auf – die Arbeit im Eingang, die beiden hängenden im linken Raum bestehen jeweils aus 12 Knäueln. – Und auch die mit den Rohren – denn dort gibt´s 2 x 12 Rohre, die mit einer Maschenzahl von 2 x 12 Maschen umhäkelt wurden.“

Und wieder scheint die Suche nach jener romantischen Magie auf, die hinter den Gegenständen liegt. 12 als magische Zahl, nach der Tages- und Nachtstunden sowie Monate gezählt werden, die 12 Apostel, 12 Geschworenen und schließlich – dies der Ausgangspunkt für Engberdings Überlegungen – besteht das Wort „Ruhe“ in der Blindenschrift aus 12 Punkten. Als ob er seinen Objekten jenseits aller Sichtbarkeit eine ganz eigene Ruhe einschreiben wollte, jene, die sie dem Alltag entheben will. Vielleicht jene Ruhe, aus der der Schlaf der Vernunft entstehen kann?

„Und ob, you know!?!“

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.