Eröffnungsreden

Marco Hompes, MA, Leiter des Museums Villa Rot zur Ausstellung „Schöpfung und Grundwasser“ von Reinhold Engberding und Peter N. Heikenwälder im Kunstverein Eislingen, 2019

Während ich mir gestern die Arbeiten angeschaut habe, dachte ich mir zwischendrin immer wieder: Warum sollte ich überhaupt über diese Werke sprechen? Warum über etwas theoretisieren, das so einladend ist, sich ganz individuell darauf einzulassen? Nicht, dass ich am Ende die Werke kaputt rede und ihre schöne Wirkung dahin ist oder ich Ihnen etwas ins Ohr setze, das sonst nicht da wäre. Nun, da ich nun aber zum Reden hier bin, versuche ich Ihnen Sehhilfen zu anzubieten und hoffe, Sie damit zum genauen Betrachten zu ermuntern.

Beginnen möchte ich in den kleinen Räumen. Gestern hat sich ergeben, dass sie etwas von Kapellen haben. Deswegen nenne ich die jetzt einfach so. In den ersten drei Kapellen sehen Sie am Boden jeweils ein Werk des Künstlers Reinhold Engberding. Die liegen dort wie Wesen, zwar ohne Kopf, dafür aber mit Wölbungen und Ausstülpungen, die an Gliedmaße und Extremitäten denken lassen. Diese Wesen, wenn ich diesen Begriff nutzen darf, haben multiple Persönlichkeiten. Ich erkläre Ihnen gerne nachher, was ich damit meine.

Doch am Anfang steht erst einmal die Betrachtung. Und da wird schnell deutlich, dass nichts so eindeutig, wie es scheint: Wo ist oben und unten, was sind Arme, was sind Beine, haben sie ein Geschlecht, wie sind sie hierhergekommen? Vielleicht erscheint Ihnen die Anordnung der Körper total logisch. Vielleicht ist Ihnen klar: Dieses, das sind zwei Arme, das dort, ist ein Bauchnabel und der Kopf ist eingezogen. Völlig klar. In diesem Fall darf ich Ihnen den Tipp geben, sich mal mit anderen Gästen zu unterhalten. Und ich bin mir fast sicher, die werden etwas ganz anderes erkennen!

Beim Entziffern der Objekte könnten sie auch feststellen, dass sie mehr über Sie selbst verraten, als Ihnen vielleicht lieb ist. So zumindest ging es mir: Beim Objekt im zweiten Raum sah ich erst einen Kopf mit großen Hörnern. Doch als ich um die Arbeit herumging, fiel es mir auf der Rückseite wie Schuppen von den Augen. Die Hörner sind in Wirklichkeit weit gespreizte Beine. Uiuiui, wie unanständig, dachte ich mir, da macht das Wesen doch die Beine vor einem Gemälde Heikenwälders breit, bereit, sie zu empfangen, dieser Reinhold… Dann wurde mir klar, dass die schmutzigen Gedanken, die das Objekt in mir auslösten, meine eigenen waren. Nicht die des Künstlers. Denn davon abgesehen, dass das Wesen vielleicht nur Aerobic betreibt oder die Beine auch gar keine Beine, sondern Arme sind, ist in Wahrheit nichts von all dem wirklich und vor allem auch nicht vom Künstler so entworfen. Denn es gibt im Vorfeld keine Planungen oder Vorzeichnungen für die Gestalt, keinen exakten Plan, wo welche Wölbung sein soll. Das Ganze ergibt sich aus dem Prozess. Konkret funktioniert das so: Ausgangspunkt sind hier immer getragene Kleidungsstücke. In diesem Fall sind es Herrenhemden, akzentuiert durch weiße Elemente aus T-Shirts. Der Künstler nimmt die Einzelteile des jeweiligen Hemds Künstler auseinander, setzte sie neu zusammen und füllt sie mit Holzwolle, und näht sie zu. Durch die gefüllte, textile Form ergibt sich eine starke Körperlichkeit und diese bringen wir schnell in Verbindung mit dem Menschen. Schnell entwickeln sie einen Charakter oder, eine Identität.

Aber ich sagte ja bereits, dass diese Figuren multiple Persönlichkeiten mit Vergangenheit sind. Das wird auch durch den Titel angegeben. Die heißt Arbeit in der zweiten Kapelle heißt „Als Hemd war ich schon in Lissabon“, die andere „Als Hemd war ich schon in Recklinghausen“ in Raum 1 und dieses hängende Objekt heißt: „Als Boxershorts waren wir schon in Zürich“

Auch hier wird unsere Phantasie angeregt: Wer war der ehemalige Träger. Was hat er in Lissabon gemacht? Warum gab es ein Loch im Hemd, das der Künstler stopfen musste, was nun ein Bauchnabel oder ein Muttermal zu sein scheint? Wir lassen uns gerne darauf ein, uns eine Geschichte auszudenken bevor wir uns fragen, ob das überhaupt stimmt. War das Hemd eigentlich jemals in Lissabon.

Insgesamt sind vier Persönlichkeiten notwendig, damit die Arbeiten funktionieren: Das sind die Wesen selbst mit ihren ganz individuellen Positionen und Charakteren, dann ihr früheres Wesen, ihre frühere Form als Bekleidungsstück inklusive Besitzer oder Besitzerin, die wiederum eine ganz eigene Geschichte hat. Beteiligt sind auch Sie, die sie integraler Bestandteil, Gesprächspartner und Produzent von Geschichten sind. Und zu guter Letzt ist da noch der Künstler selbst. Wie viel von ihm selbst in den Arbeiten steckt, können wir nur erahnen.

Was Engberding mit seinen Arbeiten betreibt ist ein subtiles Spiel mit unserer Wahrnehmung. Denn als Menschen sind wir immer gerne bereit Andeutungen anzunehmen und uns daraus etwas zusammenzureimen. Immer suchen wir nach etwas Vertrautem, das wir bereits kennen und das wir uns erklären können. Wir sehen Gesichter in Wolken, glauben Dinge im Kaffeesatz zu erkennen und sprechen Tieren und Pflanzen menschliche Eigenschaften zu. Mit seinen Verweisen auf Menschliches macht Engberding sich dieses menschliche Verhaltensmuster zu eigen und inszeniert mehrdeutige Vexierbilder, die letztlich aber recht abstrakt sind.

Das erklärt die Nähe zu Peter Nikolaus Heikenwälder. Seine Bilder brauchen einen gewissen Abstand. Zu nah sehen Sie nur Details, zu weit weg sehen die Gemälde sehr düster aus. 

Benjamin Fellmann hat in einem Text über die Arbeiten einen herrlichen Titel gefunden, der die Arbeiten gut charakterisiert: Wenn das Licht ausgeht, wird’s bunt. Und tatsächlich sind die Bilder dunkel, aber nicht unergründlich, sie sind sehr schwarz, es ist aber ein freundliches Schwarz, wie der Künstler selbst sagt. Es ist ein Schwarz, in das man Eintauchen möchte, man das mit dem Auge bewandern will.

Und das macht mir zumindest unglaublichen Spaß. Nehmen Sie zum Beispiel einmal das große Gemälde. Vielleicht steigen Sie in der unteren rechten Bildecke ein. Dort sehen Sie grüne, verzweigte Strukturen. Einen roten Punkt, einen magentafarbenen, einen orangenen. Es wirkt ein wenig wie ein Stück futuristischer Wiese mit blühenden Blumen. Stellen Sie sich gedanklich in diese Wiese, atmen Sie den Duft und schauen Sie sich um. Dort über Ihnen schweben amorphe Wesen vorbei. Ein wenig sehen sie wie Kokons oder Reptilien aus. Steigen Sie zu ihnen hoch und gucken Sie ins Schwarz. Sie werden sehen, dass sich dort noch mehr Strukturen verbergen. Diese sind aber nicht unheimlich, sondern freundlich. Eine große schwebende Figur hat einen leuchtenden roten Punkt auf ihrer rüsselförmigen Ausstülpung. Sie erahnen die Konturen und können sich vorstellen, wie sie aussehen, wenn Sie näher zu ihnen gehen. Der Maler legt Ihnen Spuren in die Tiefe, die Sie immer weiter mit Ihren Augen beschreiten. Es ist wie der Blick in Kuppeln barocker Kirchen mit ihren illusionistischen Bildwelten, die einen Raum öffnen, der Ihren Blick in die Tiefe leitet und Ihnen dabei etwas offenbart. 

Die Gemälde sind wie eine Momentaufnahme aus einer traumhaften Unterwasserszene, in denen sich Ihnen immer wieder neue Dinge offenbaren. Schauen Sie oben links auf die Karomuster. Diese führen Sie wieder in den Vordergrund, wo Sie, vorbei an einem grünen Rauschen durch eine bewegte blaue Linie wieder in aus dem Bild steigen.

Die Reise durch das Bild ermöglicht Ihnen, eigenen Gedanken nachzugehen. Der chilenische Maler Matta bezeichnete seine Gemälde einmal als being-scapes: Ein Neologismus, zusammengesetzt aus den Worten landscape, Landschaft und being, Sein.

Seinslandschaften. Der Unterschied ist, dass Matta seine eigene Gemütszustände, seine eigenes Sein in Landschaften verwandelt hat, während Heikenwälder uns diese Landschaften für uns zur Verfügung stellt.

Bevölkert ist diese being scape von biomorph-abstrakten Figuren, die eigentlich rein abstrakte Formen sind. Der Maler wirft uns Formen zu, die so konkret sind, dass sie an Reales erinnern, aber so abstrakt, dass wir keine Narration erhalten. Wie die Farben im Zwielicht bleiben, so bleiben die Formen ohne Referenzen an Reales. Das kann letztlich nur bedeuten, dass man wohl oder übel von der eigenen Kreativität und der eigenen Phantasie Gebrauch machen darf. Oder auch nicht, vielleicht genügt der Blick auf die aufleuchtenden Farben, ein diffuses Treibenlassen in den tiefen Bildwelten. Im Kleinformat: stärkere Vereinzelung der Objekte, als würde aus dem Schwarm der Formen eines herausgenommen und porträtiert.

Die unterste der kleinen Arbeiten geht einen Dialog mit der großen Bodenarbeit von Reinhold Engberding ein. Diese besteht aus Herrenhosen. Sie stammen von einem Mann, der in Vietnam war und verstört zurückkam. Das Dschungelbett machen, steht auf Vietnamesisch dort und auf Deutsch: Leg dich ruhig hin. Theoretisch könnten Sie sich drauflegen, praktisch würden sie feststellen, dass das nicht besonders bequem wäre. Mit Zeitung gefüllt und mit Tackernadeln genäht, wäre es eher unangenehm. Und nun stellen Sie sich vor, was es heißt, wenn Ihr Bett keine Ruhe bringt, sondern Sie sticht… Die Reißverschlüsse der Hosen blieben übrigens über und haben sich zu einem Tanz an der Wand versammelt.

An der hintersten Wand sehen Sie T-Shirts mit gefüllten Strumpfhosen: „Na ja, dies meist aber zu zweien (Beginnende Zellteilung“). Einige dieser Strumpfhosen wirken im Verhältnis sehr lang. Spannend auch die Farbunterschiede: es gibt schwarze Strumpfhosen und hellere, fleischfarbene. Schön zu beobachten, wie sich durch die Nähte im unteren Bereich eine längliche Struktur ergibt, die durch die pralle Füllung leicht nach vorne gebogen ist. Oder was dachten Sie, was das ist.  Vielleicht überkommt sie Unbehagen oder Belustigung. Davon abgesehen, dass Kunst beides darf und gerne auch soll, gebe ich zu bedanken, dass der Phallus eine lange kulturgeschichtliche Tradition hat. Hier weiß man das, denn die steinzeitlichen Höhlen der Alb sind nicht fern und die kurvige Venus vom Hohle Fels geizte nun auch nicht mit ihrer Üppigkeit. 

Ein wenig korrespondiert die Arbeit mit dem Werk im ersten Raum. Auch hier baumeln organisch wirkende Objekte, hübsch zusammengerafft zu einer Art Bouquet. So platziert, dass man die eingestülpten Enden sehen kann. Sie mögen vielleicht ein wenig an Körperöffnungen erinnern. Was man vermutlich nicht gleich sieht, ist, dass der Werkstoff hierfür Präservative waren. Mit Wachs gefüllt „O.T (Von unten ja ganz schön)“ 

Wenn wir beim menschlichen Körper und seinen Öffnungen bleiben, kommen wir zum letzten Raum. Der fällt ein wenig raus, aber auch er ist etwas sehr Besonderes. Die Filzobjekte „Guten Morgen, (12 Tage in Chiang Mai)“ basieren auf natürlich entstandenen, morgendlichen Zeichnungen des menschlichen Körpers. Deren Konturen wurden auf Industriefilz übertragen und ausgeschnitten und mit Dispersionsfarbe bemalt. Ihnen haftet etwas von Landkarten an. Landkarten exotischer unbekannter Inseln.

Im gleichen Raum sehen Sie eine Reihe wirklich traumhaft schöner Aquarelle von Peter Nikolaus Heikenwälder. Der Künstler meinte, der Reiz im Aquarell liege darin, es nicht nach Aquarellen aussehen zu lassen. Und das hat er geschafft. Denn Aquarelle hat meistens sofort die Anmutung von Landschaft. Oft sind es fein ineinanderlaufende Farben, blütenhafte pastellige Töne und wenn dann noch eine Horizontlinie hinzukommt, dann ist der landschaftliche Eindruck von Naturformen perfekt.

Bei Heikenwälder huscht nur manchmal etwas durchs Bild, das an Muscheln oder Wurzeln erinnert. Durch die Kombination von Bleistift und Aquarelle, die klar konturierten Formen und den Einsatz von geometrischen ornamenthaften Teilen, wirkt das Ganze in sich geschlossen. Auch sie wirken wie einzelne Protagonisten aus den großformatigen Bildern, nicht mehr im Dunkel der Ölfarbe verschleiert, sondern in ganzer, farbiger Schönheit ans Tageslicht geholt. Und das alleine zu Ihrem Vergnügen.

Ich wünsche der Ausstellung viel Erfolg.