Nora Sdun zu B. wurde bang ums Herz, 2009

Nora Sdun, freie Autorin, Hamburg zur Eröffnung der Ausstellung „B. wurde bang ums Herz“ von Reinhold Engberding im Kunstverein Kreis Gütersloh, März 2009

Reinhold Engberding arbeitet immer an zusammenhängenden Werkblöcken. Es entstehen auf diese Art und Weise sehr unterschiedliche Serien, von denen Sie hier in Gütersloh einige zu sehen bekommen.

Kurz benannt nach ihren Materialien, spreche ich zur Einführung nur über drei dieser Serien nämlich über die Filze im Eingangsbereich, die Glasplatten mit Portraits und zum Schluss – es bleibt Ihnen nichts erspart – gibt’s ein Gedicht zu den Herrenwesten. (Das einzig Gute ist, dass das Gedicht nicht von mir ist.)

Ich will versuchen, am Beispiel der Kunst von Reinhold Engberding ein Kernproblem aller bildenden Kunst kurz anzureißen, es ist das Problem der Beliebigkeit. Das Problem ist schon sehr alt. Seitdem Kunst aber nicht mehr allein zuständig ist für das „Schöne“ (was auch so ein Problem ist), drängt sich die Frage der Beliebigkeit zusehends in den Vordergrund. 

Um sich aus dieser bedrohlichen Situation zu manövrieren, greifen alle Künstler zu allerlei Kniffen und Schlichen, denn der Beliebigkeit darf man sich nicht wehrlos aussetzen, da sie jede weitere künstlerische Beschäftigung zersetzt. Leugnen lässt sie sich aber eben auch nicht.

Die Glasplatten, die mit Schellack bemalt sind, führen den Titel „Is that my Son?“, und zu sehen sind junge Männer. Junge Männer gibt es nun ja ein paar Millionen. Sie sehen, ich bewege mich stracks zu auf das Problem der Beliebigkeit. Also mit welchen Mitteln trifft Engberding unter Millionen junger Männer eine Wahl? Erst mal ganz einfach – nämlich eitel – so wie es der Titel der Serie gebietet, mit der Frage: Könnte das vielleicht mein Sohn sein? Und da fragt man ja nicht irgendwelche Herren, sondern nur solche, die einem als Sohn gefallen würden. Davon werden es allerdings auch nur etwa eine halbe Million weniger. 

Nun – im Fall der Glasplatten verhält es sich so wie im Märchen, in dem eine Prinzessin den gesamten Königshof tyrannisiert, da sie sich in den Kopf gesetzt hat, eine Halskette aus Tautropfen besitzen zu wollen und die Goldschmiede daran verzweifeln, die Tautropfen aufzufädeln, denn bei Nichtgelingen droht ihnen selbstverständlich der Tod. Ein weiser Goldschmied, der sich der Strafe zu entziehen versucht, schlägt der Prinzessin vor, sie möge sich doch bitte die schönsten Tautropfen aussuchen, worauf hin er sich sofort an die Herstellung der Halskette machen würde. Nun geht die Prinzessin begeistert am Morgen in den Garten und versucht, die Tauperlen einzusammeln, was ihr natürlich genauso wenig gelingt, wie allen anderen diensteifrigen Personen zuvor. Und sie rast klagend und hysterisch herum in der Erkenntnis, dass sie niemals eine Kette aus Tautropfen bekommen wird. Nicht nur weil auch sie diese nicht einsammeln kann, sondern auch noch, weil sie sich nicht entscheiden kann, unter den Millionen von Tautropfen.

Wozu erzähle ich das? Richtig, die Suche im Internet nach jungen Männern, die vielleicht der Sohn von Reinhold Engberding sein könnten, ist in etwa zu vergleichen mit der Jagd nach den Tautropfen, die aufzufädeln sind. Denn es gibt erstens ständig neue junge Männer – sie wachsen ja ständig nach – und man kann sich obendrein gar nicht entscheiden, welche man nun eigentlich alle haben will. Und außerdem werden sich die Jünglinge dem Besitzanspruch durch einen Künstler entziehen, der sich einfach nur in den Kopf gesetzt hat, allen möglichen jungen Männern die Frage zu stellen, „Könntest du vielleicht mein Sohn sein?“ – Sie müssen sich das mal vorstellen… – Das wird also nichts.

In der Serie der Glasplatten haben wir es also mit einer absichtsvoll breit ausgestreuten Beliebigkeit zu tun. Die Motive, die sie sehen, erfüllen die Funktion eines Pars pro toto, sie müssen sich zu diesen jungen Männern schlicht alle anderen Millionen Jung-Männer dazu denken. Die Sache mit dem Besitzanspruch regelt sich übrigens, wie immer bei Kunst und anders als im Märchen, höchst elegant, nämlich symbolisch, denn die ungehörige Frage stellt Engberding einem von ihm selbst angefertigten Bild, gemalt mit Schellack.

Eine der Möglichkeiten für Künstler beim Umgang mit dem Faktum der Beliebigkeit ist also gerade die, auf sie zu verweisen, die Unabwendbarkeit der beliebigen Situation deutlich zu machen, die in diesem speziellen Fall, also bei den Schellackmalereien, durch die schiere Massenhaftigkeit der Spezies „junger Mann“ charakterisiert ist.

Ein Gegenentwurf zum lustvollen Umherwühlen in den beliebigen Tatsachen, wie bei den Schellack-auf-Glas-Arbeiten, ist die der Restriktion. Dieser Fall liegt vor in den Filzen, die im strengeren Sinne als Konzeptarbeit verstanden werden können.

Es sind unrunde, an Tierhäute, Baumscheiben oder phantastische Kontinente erinnernde Formen, von denen Reinhold Engberding hier eine Installation von 12 Exemplaren zur Ausstellung bringt. Jetzt stellen sie sich mal einen Künstler im Atelier vor. Der sitzt oder steht da und überlegt, was er nun als nächstes macht. Ganz gewiss wird er nicht einfach zur Schere greifen und schnell mal eben so eine ganze Serie unrunder, an Tierhäute, Baumscheiben oder phantastische Kontinente erinnernder Formen aus Filz ausschneiden. Entscheidend an dieser Serie von Filzen ist nämlich ihr dokumentarischer Charakter, obwohl man ihnen das nicht ansieht. Aber diese Formen sind nicht erfunden, sondern gefunden, aber nicht willkürlich, zufällig, aufgelesen, sondern systematisch dokumentiert, Tag für Tag. 

Diese Dokumentationsaufnahmen sind hier nun umgewandelt in diese abstrakten Filze, ihre Herkunft ist verschleiert. Und nur mit Kopfzerbrechen lässt sich der Schleier lüften – sie können das versuchen, in dem sie überlegen, was sie täglich erneut tun und welche Ergebnisse sich dabei dokumentieren lassen, die immer andere aber doch verwandte Formen haben. 

Wenn man beginnt, darüber nachzudenken, kommen einem bald hundert solcher Wiederholungsfiguren ins Gedächtnis, vom Zähneputzen bis zum Kaffeetrinken (und vielleicht denken Sie ja noch über weitere Stoffwechsel-Formen nach), wobei sich dabei dann auch noch die Frage stellt, welche Form man dabei dokumentieren will, die Zahnbürste ändert sich nämlich zu selten, vielleicht macht man ein Foto vom Auftrag der Zahnpaste. Bei dem Kaffee könnte man Füllhöhen notieren und auf großen Blättern als Pegelstände ausstellen oder den Fleck dokumentieren, den die trocknende Lache Kaffee am Boden der Tasse beschreibt. …

Nun, da gibt es jetzt wiederum verschiedene Möglichkeiten, aber ich wollte ja gerade betonen, dass die Beschränkung auf nur eines dieser sich wiederholenden Ereignisse, die genaue Datenerhebung, das Umgrenzen, die konzentrierte Beschäftigung mit nur einem Motiv (und welche dergleichen Restriktionen mehr auszudenken sind), dass alle diese Einschränkungen, die Hysterie, die einen befällt, wenn man unter Millionen schöner Dinge wählen soll, alle anderen automatisch und kategorisch ausschließt. Genau das ist hier bei den Filzen der Fall, wobei das Ergebnis nicht weniger schön ist, aber eben die Form nicht beliebig variiert, da es sich um Abbilder eines täglich wiederkehrenden Bildes handelt. Das also ist die andere Möglichkeit der Beliebigkeit ein Schnippchen zu schlagen: konzeptuelle Strenge.

Denken sie jetzt bitte nicht, dass Reinhold Engberding selbst solche beckmesserischen Unterscheidungen zwischen seinen Arbeiten vornimmt. Ich habe hiermit nur versucht, ein grundsätzliches Problem aller Kunst zu erläutern und dabei zwei Wege, sich diesem Problem zu stellen, beschrieben.

Jetzt zu etwas anderem, den Kleidungsstücken, die sie hier überall in der Ausstellung in verschiedenen Metamorphosen finden. Ich erkläre jetzt nicht, wie Reinhold Engberding an diese Herrenkleider kam, ob es seine eigenen sind, oder die, die er nie haben wollte … Nein, ich komme jetzt zu einem Gedicht von Christian Morgenstern, denn es ist wichtig zu betonen, dass man es bei Reinhold Engberding auch immer mit zum Scherz geneigter Kunst zu tun hat.

Das Gedicht passt übrigens am besten zu dem Westen-Karussell im Erdgeschoss.