Eröffungsreden

Sabine Elsa Müller, MA, Köln, zur Eröffnung der Ausstellung „…dann, wenn“ von Reinhold Engberding, Künstlerhaus Sootbörn, Hamburg, 2015

In einer Ausstellung zu stehen und über die Kunstwerke zu sprechen, ist immer eine sehr zweischneidige Angelegenheit. Können die Werke denn nicht für sich selbst sprechen? Sie können und müssen es, aber andererseits sind sie komplexe Artefakte, die sich nicht unbedingt auf den ersten Blick erschließen. Was nichts damit zu tun hat, dass sich das Wesentliche in einem Werk häufig sehr unmittelbar zeigt, nämlich die Gegenwart von etwas Unaussprechlichem. Ein Geheimnis, oder das, was man mit Aura bezeichnet oder etwas profaner mit Ausstrahlung. Die Aufgabe des Redners bei einer Eröffnung ist es, dieses Unaussprechliche nicht zu zerstören, indem mit zu vielen oder falschen Worten davon abgelenkt wird, sondern ihm im besten Fall zuzuarbeiten.

Ich versuche es einmal damit, zunächst von den Werken in der Ausstellung abzusehen und mich demjenigen zuzuwenden, der das alles hervorgebracht hat. Reinhold Engberding – oder sollte ich sagen: Reinhold Engberding und Holger B. Nidden-Grien? Denn der bildende Künstler Reinhold Engberding hat sich mit Holger B. Nidden-Grien ein alter Ego geschaffen, ein weiteres Ich, das als Dichter und Kommentator der Kunst von Reinhold Engberding tätig ist. In einem dieser Kommentare bezeichnet er die beiden Personen, den Künstler und sein Pseudonym, als zwei Hälften einer Idee. Sie arbeiten gemeinschaftlich an einem Gesamtkunstwerk, befruchten sich gegenseitig, und so fließt auch in diese Ausstellung die Leistung von Holger B. Nidden-Grien mit ein – manchmal ganz direkt in den Titeln.

Dass es sich bei dieser Aufspaltung in zwei Personen, den Künstler und den Dichter, um mehr als eine Grille handelt, ist offensichtlich, da es sich bei dem Prinzip des „Schöpfens aus dem Eigenen“, wie Nidden-Grien das nennt, um eine Grundkonstante in diesem Werk handelt. 

Immer wieder geht es um Auffächerung der eigenen Person in Viele, um Prozeduren der Spiegelung, Verdoppelung und des Austauschs. Der Körper – nicht mehr tauglich als Hort einer fassbaren Identität und Abgrenzung nach außen – fächert sich lustvoll auf in viele Facetten. Die Auflösung einer klar umrissenen Persönlichkeit wird als Gewinn begriffen. Es geht bei dieser Zweiteilung einer Person nicht länger um Ausgrenzung und Abspaltung – wie beispielsweise in der bekannten Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hide, bei der sich die Persönlichkeit in einen zivilisiert-vernunftgeleiteten und einen animalisch-triebbesessenen Teil aufspaltet, und bei dem sich die eine Seite desto mehr Geltung verschafft, je mehr sie von der anderen verleugnet wird.

Eher geht es um eine Form der Travestie, ein spielerisches in eine andere Haut schlüpfen. Das hat natürlich Vorbilder, in der Kunst wie in der Literatur. Bekannt für eine Aufspaltung in viele, sich ergänzende Persönlichkeiten ist der portugiesische Schriftsteller Fernando Pessoa, der nicht nur zu einem Pseudonym griff, sondern unter verschiedenen Namen veröffentlichte, die er jeweils mit einer eigenen Persönlichkeit und einer eigenen Biografie versah, so dass man hier von Heteronymen spricht. 

Auf dem Gebiet der bildenden Kunst ist natürlich an dieser Stelle vor allem Marcel Duchamp zu nennen, der mit Reinhold Engberding auch das Interesse an einer literarischen Metaebene, an Verschlüsselungen und Wortspielen teilt. Es finden sich aber zu Duchamp weitere Parallelen. Man denke an die autoerotischen Reproduktionsfantasien in Duchamps „Großem Glas“ und Engberdings Werkreihe „Is that my son?“ von 2007, in der er auf der Suche nach einem fiktiven Sohn erotische Fotos von jungen Männern aus dem Internet auswählt und sich in Form von Malerei aneignet. 

Dasselbe Motiv, die mögliche Gestalt eines eigenen Nachkommen umkreist Engberdings Bildfolge „Adam“, ebenfalls 2007 entstanden. Sie ist mit einem typischen Niggen-Grien-Satz folgenden Wortlauts versehen, „und alles wird nicht gut nicht wahr“, der wiederum eine verblüffende rhythmische Ähnlichkeit hat mit dem eigentlichen, kryptischen Titel für das „Große Glas“, „Die Braut wird von ihren Junggesellen entkleidet, sogar“. Selbst das Glas als Bildträger findet sich bei Engberding in der Neuauflage von „Is that my Son – Glas“, von 2008/09 wieder. Ebenso könnte man die stilisierten, an Uniformen erinnernden Gehäuse der Junggesellen als Vorläufer der Herrenoberbekleidung in Engberdings Werk interpretieren.

2006 greift Reinhold Engberding  zum ersten Mal zu einem Material, das über Body Art und Performance Eingang in die Kunst gefunden hat – getragene Kleidung. Kleidung als Stellvertreter für eine Person, als zweite Haut, in der sich die Persönlichkeit, ihre Intimität, aber auch ihre selbst gewählte oder zugewiesene Rolle sehr direkt widerspiegelt. Durch die Abwesenheit der Person, der diese Kleidung einmal gehörte, wird die Kleidung zur Metapher ebenso für Sinnlichkeit wie für Wandel und Vergänglichkeit, oder besser gesagt, für die untrennbare Verbindung von Eros und Tod. Bei einer von Engberdings ersten Arbeiten mit getragener Kleidung nähte er die abgelegten Anzugwesten seines verstorbenen Lehrers Lucius Burkhardt nach außen gewendet zusammen und ließ sie als luftiges Epitaph sich um die eigene Achse drehen. Mit dem Griff zu abgelegter Kleidung spürt Reinhold Engberding dem Leben nach. Auch wenn sie offenbar überflüssig geworden ist, lässt sich in ihr etwas vom lebendigen Leben aufspüren. Er wendet und dreht diese Zeugnisse einer Existenz solange, bis sie wieder zu neuem Leben erwachen, indem sie eine eigenständige Form mit einer eigenen Botschaft annehmen.

In „Wiege Waage wie schwer“ (2014) wird die Kleidung stärker umgeformt. Auch hier handelt es sich um Kleidungsstücke einer Person, die dem Künstler nahestand, und mit denen er sich nach deren Tod stellvertretend auseinandersetzt. 

Fünf weiße Hemden – Kleidungsstücke, die zum einen dem festgelegten Code für Herrenbekleidung entsprechen, zum anderen für einen besonderen, feierlichen Anlass stehen, deren Farbe aber auch für sich genommen eine starke symbolische Strahlkraft genießt – wurden regelrecht auseinandergenommen, alle Nähte wurden aufgetrennt, um wieder neu und verwandelt zusammengesetzt zu werden. Die neue Form ist von dem abhängig, was das Material hergibt und also auch für den Künstler selbst überraschend. 

Inwiefern hat diese reusenartige Form nun mit einem bestimmten Menschen oder dessen Tod zu tun? Auch wenn wir diesen Menschen gar nicht gekannt haben, ist der Eindruck mächtig. Die durchbrochene, zugespitzte Hülle erzählt von der Abwesenheit des Körpers, sie suggeriert eine Aufwärtsbewegung, sie lässt an ein übergroßes Totenhemd denken und hat etwas Feierliches, aber auch etwas Unheimlich-Gespenstisches. Der Titel „Wiege Waage wie schwer“, der aus einem der Gedichte stammt, die Nidden-Grien parallel zu dieser Arbeit geschrieben hat, erinnert in seiner rhythmischen Melodik an ein Kinderlied oder eine Beschwörungsformel.

Bei diesen Gedichten geht Nidden-Grien ganz ähnlich vor wie sein alter Ego Engberding in der Skulptur: Er arbeitet mit dem Kunstgriff des Anagramms, d.h. er zerlegt einen Begriff in einzelne Buchstaben und ordnet danach die Sätze oder Wörter neu. Diese Methode der Wort- oder Satzbildung durch Buchstabenumstellung lockt den Wörtern eine neue Bedeutungsebene hervor, die hinter der ursprünglichen Bedeutung versteckt zu lauern schien. 

Die Gedichte Holger B. Nidden-Griens führen ein Doppelleben wie die Person selbst, die es zum Vorschein bringt. Oder wie es Arne Rautenberg im Katalog „Our Vather is Undings Son“ (Bad Oldesloe, 2007) ausdrückt: „Polaritäten werden geschürt, um Gemeinsamkeiten zu beschwören, Paradoxien als gegenseitige Ergänzung erfahr- und künstlerisch urbar gemacht.“

In der neuen Arbeit mit  je 12 weißen Hemden aus New York und Engberdings westfälischer Heimatstadt Herten stehen die Hemden für das Doppelleben, das sich aus den  biographischen Bezugspunkten eines Menschen ergeben kann, wenn diese weit auseinander liegen. Diesmal fangen die Hemden wirklich an zu tanzen. In geradezu wilden Bewegungen werfen sie die Arme nach oben und bilden einen Kreis, bei dem je ein Hemd aus Herten mit einem aus New York verbunden ist. Trotz der Korrespondenzen und stabilisierenden Symmetrien und der Einbindung in einen ewigen Kreislauf herrscht große Unruhe und eine Tendenz zum Ausbruch aus der Ordnung, aber auch lebenshungrige Energie. 

In seiner Wildheit erinnert die Installation an den ekstatischen Tanz der Sufi-Derwische mit ihren weißen Gewändern. Die abgetrennten Knöpfe bilden kleine Ansammlungen auf dem Fußboden unter den Hemdenpaaren und wirken wie Tropfen einer Flüssigkeit. Blut, Sperma, Schweiß?

Die Nähe des textilen Materials zur menschlichen Haut, seine Wärme und haptische Sinnlichkeit kann sich durch die Art seiner Transformation mit ungeheurer, auch erotischer Energie aufladen.  Das macht sich Engberding auch bei den beiden anderen Werkgruppen zunutze, „One Month in Dallas“ (2015) und den kleinen Objekten „Als Hemd war ich schon in New York / Chiang Mai / Dallas“. 

Die Kleidungsstücke, die zu den 34 spielerisch und ornamental auf der Wand angeordneten Objekten aus „One Month in Dallas“ führten, stammen von Unbekannten. Engberding hat sie während eines Aufenthalts in Dallas buchstäblich von der Straße aufgelesen, gewaschen und in diese Formen gebracht. Ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten, wenn auch anonymen Person, die Veränderung, denen sie im Straßendreck ausgesetzt waren sowie der spezifische Fundort machen aus ihnen sehr individuelle Komponenten einer Raumzeichnung, in der sie wie verdichtete, weiche und atmende Markierungspunkte wirken.

Auch die in sich selbst verwickelten Hemden, mit denen Engberding „schon in New York, Chiang Mai oder Dallas war“, haben eine biomorphe Form angenommen, die aber etwas weniger elegant an ein prall gefülltes Organ erinnert. Was die Arbeiten wirken lässt, ist der Widerspruch zwischen dem banalen Hemd und seiner realen Erscheinung als Projektionsträger eines Auslandsaufenthalts mit all seinen Erfahrungen, Begegnungen, Orten und Ereignissen. Das Hemd spielt eine rein formale Rolle und wandelt sich vom Kleidungsstück zur Inkarnation des komplexen Referenzsystems „Kleidung“. Reinhold Engberding registriert, absorbiert und transformiert mit Hilfe dieses Referenzsystems die Reibung zwischen Identität und Heterogenität. Aber nicht weil er Kleidung verwendet, sprechen seine Arbeiten zu uns, sondern durch seinen Umgang damit und die gelassene Heiterkeit und Klugheit seiner Phantasie und seines Bewusstseins.