Eröffnungsreden

Dr. Veronika Wiegartz, Gerhard-Marcks-Haus, Bremen zur Eröffnung der Ausstellung »Weltwissen in Socken« von Reinhold Engberding in der Kulturkirche St. Stepahni in Bremen, 2020/21

Eine Annäherung in vier Begriffen
Raum
Die Kulturkirche St. Stephani ist kein »White Cube«, in dem die Aufmerksamkeit des Betrachters automatisch auf die ausgestellte Kunst gelenkt wird. Die Kirche dient unterschiedlichen Zwecken, sie ist »möbliert« und erzählt mit all ihren Brüchen von ihrer Geschichte. Dagegen muss sich der Künstler behaupten, zumal wenn er wie in diesem Fall mit dreidimensionalen Objekten arbeitet. Wie geht man zum Beispiel damit um, dass Langhaus und Querschiff von zwei großen barocken Leuchtern aus Messing dominiert werden? Man kann nur gegen oder mit dem Raum arbeiten und Reinhold Engberding hat sich für Letzteres entschieden. So ist die »Waldkapelle« (Nr. 1) direkt unterhalb des einen Leuchters platziert und das Mobile »Doppel« (Nr. 2) in der Flucht des anderen. Hier wird zugelassen, dass Kunst und Kirchenausstattung miteinander in Beziehung treten, obwohl sie eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Durch die filigrane Vielteiligkeit und das konstituierende Moment des Hängens korrespondieren die beiden Arbeiten mit den mehrarmigen Leuchtern und werden von diesen, wenn sie strahlen, sogar überhöht. Generell hat sich Reinhold Engberding für seine Ausstellung auf wenige, eher zarte und sogar kleine Objekte beschränkt. Dass sie in dem riesigen Raum nicht untergehen, sondern wahrgenommen werden, liegt an ihrer präzisen Aufstellung: ein Feld von Kugeln, das sich auf dem Boden neben dem Altar behauptet (Nr. 10), eine kleine Wandkonsole, die den Fluss der Bogennischen unterbricht (Nr. 3), eine weiße Hängearbeit als Kontrast zum schwarzen Tuch dahinter (Nr. 2 und Nr. 4).
Form
Häufig verwendet Reinhold Engberding für seine Arbeiten getragene Kleidung. Diese war dazu bestimmt, einen menschlichen Körper zu bedecken und ist zunächst nur weiche Hülle. Um daraus plastische Objekte und Volumen zu gestalten, muss sie stabilisiert und/oder ausgestopft werden. Diesen Prozess nutzt der Künstler zur Verfremdung: Er verändert die Form durch das Auftrennen von alten und durch das Setzen von neuen, mit der Hand gefertigten Nähten. Die ursprünglichen, maschinellen Nähte werden von ihm in einem Akt der Aneignung übernäht, andere Teile hingegen völlig neu miteinander vernäht. Manchmal geben Wachs oder Schellack zusätzlichen Halt. Es entstehen auf diese Art und Weise ganz unterschiedliche Objekte, in denen die ursprüngliche Funktion und Form der Kleidungsstücke häufig gut lesbar bleibt, teilweise aber auch bis zur Unkenntlichkeit verändert worden ist, sodass der Betrachter hin und her gerissen ist zwischen vertrautem Déjà-vu und neugieriger Ursprungserkundung. Die Resultate sind nicht amorph, sondern formal streng durchgebildet und oft an stereometrischen Grundformen orientiert. Dies sowie die gedeckte Farbigkeit der ausgewählten Textilien und das Stilmittel der Wiederholung oder Serie verleihen dem Werk von Reinhold Engberding optisch eine Ausstrahlung von souveräner Ruhe. Aber unter der Oberfläche lauert der Witz.
Witz
Bei aller formalen Durchdringung spielt die inhaltliche Ebene in den Arbeiten von Reinhold Engberding eine mindestens ebenso große Rolle. Er ist nicht nur ein bildender, sondern auch ein Künstler des Worts. Als Alter Ego und unter dem Pseudonym Holger B. Nidden-Grien (ein Anagramm von Reinhold Engberding) verfasst er Gedichte, Texte und kommentiert sein eigenes Werk. Geschichte(n) bilden das Substrat seiner Arbeit. Das beginnt mit der verwendeten Kleidung, die getragen ist, aber keineswegs aus dem anonymen Altkleidersack stammt, sondern ihm in der Regel von Bekannten und Verwandten zugetragen wurde und manchmal sogar seine eigene ist. So haftet den vollendeten Werken immer auch ein Stück Leben desjenigen an, der sie ursprünglich getragen hat. Diese Bedeutungsebene, die der Künstler kennt (ein späterer Betrachter aber nicht sehen kann), personalisiert die Kleidung und steuert so einen Impuls zur künstlerischen Idee und Umsetzung bei. Manche der Textilarbeiten von Reinhold Engberding sind mit Worten oder Sätzen bestickt (nicht in dieser Ausstellung), sodass Bild- und Textbotschaft miteinander verschmelzen. In fast allen Arbeiten aber legen die Titel eine Fährte. Es sind keine Titel zum strengen Verständnis, sondern poetische Botschaften, witzig, ironisch, kritisch, anzüglich, subversiv, die Gedankenräume öffnen. Sie drehen sich um das vielschichtige, undurchschaubare und soziale Wesen »Mensch«.
Ort
Die Kirche – und hier kann sich das Gebäude nie ganz von der Institution emanzipieren – ist ein Ort des geistigen Austausches, des gesellschaftskritischen Anspruchs, der sozialen Fürsorge und der Nächstenliebe. All das kann auch erdrücken. Was tun, wenn das Menschliche Thema der eigenen Kunst ist, aber der Eindruck von zu großer Nähe oder von Vereinnahmung durch den hehren Ort vermieden werden soll? Dann hilft nur die Offensive. Zum Beispiel, indem man auf das allzu Menschliche, auf die körperlichen und sexuellen Bedürfnisse verweist. Im Werk von Reinhold Engerberding gibt es durchaus Arbeiten, die politisch oder soziologisch motiviert sind und damit auch den Erwartungskosmos kirchlichen Handelns streifen. Nur zeigt er sie hier nicht. Stattdessen wählte er Arbeiten aus, die recht unverhohlen auf das männliche Geschlechtsteil anspielen: Die Leibwäsche in »Doppel« (Nr. 2) ist nicht zu Kugeln, sondern zylindrisch geformt. Das eine Bein in der Serie »Na ja, dies meist aber zu zweien« (Nr. 9) rutscht hier und da vom Rand des T-Shirts in die Mitte. Und als Gussformen für »Von unten ja ganz schön« dienten nach Auskunft des Künstlers Kondome. Ist diese Auswahl für den Ausstellungsort nun als mutwillig und getrieben vom Schalk im Nacken zu werten? Vielleicht. Aber sie erzeugt geistige Reibung.